von Lena Buß

Verbundenheit und Vielfalt

„Jeder weiß, dass wir den lieben, der uns ähnlich ist, der so denkt und fühlt wie wir. Aber das gegenteilige Phänomen ist nicht weniger häufig. Es kommt sehr oft vor, dass wir uns zu Personen, die uns nicht ähnlich sind, hingezogen fühlen, gerade weil sie uns nicht ähnlich sind.“ (Durkheim 1893: 101)

In Bezug auf Durkheim findet sich der Ausdruck eines kollektiven Bewusstseins in gemeinsamen Mitteln wie Sprache, Schrift, Moral, Recht, Brauch, Gewohnheit, Wissen und Gewissen. Voraussetzung dafür ist die These, dass durch gemeinsame Gefühle und Betrachtungsweisen/Anschauungen eine Gesellschaft zusammengehalten wird. Darüber hinaus gibt es soziale Regelungen, die sich auf individueller Ebene auf unser Denken und Handeln beziehen. Durkheim sieht das als soziale Tatsache (vgl. Abels 2020:23). Beispielsweise muss man, um in einer Sprachgemeinschaft zu interagieren, nicht nur die Regeln kennen (Syntax, Grammatik usw.), sondern auch den Gebrauch des Wortes in der Sprache. In der Kurzgeschichte von Peter Bichsel „Ein Tisch ist ein Tisch“ verliert der Protagonist das Wissen über einzelne Bezeichnungen. Folglich konnte er in keinerlei Interaktion mehr treten.1

„Damit ist im Prinzip auch geklärt, warum „Interaktion“ […] möglich ist und wie sie in Gang gehalten wird: indem sich Individuen im Vertrauen auf gemeinsame Überzeugungen wechselseitig abstimmen und sich dem Zwang der sozialen Tatsachen willig fügen.“ (Krebs 2021:10)

Interaktion kann somit in Bezug auf den Soziologen Marcel Krebs als Übereinstimmung gesehen werden. Nicht im Sinne einer inhaltlichen Übereinstimmung, sondern in einer rahmengebenden: „Ich verstehe unter dem Wort „bewahren“ etwas Ähnliches wie du.“ Was Krebs als „gemeinsame Überzeugung“ sieht, sehe ich vielmehr als eine Übereinkunft miteinander zu agieren, unabhängig von potenziellen Gemeinsamkeiten oder Schnittmengen im Gespräch. (vgl. Krebs 2021:10)

Denn wie das einleitende Zitat widerspiegelt: „Wie reich wir auch begabt seien, es fehlt uns immer etwas.“ (Durkheim 1893:102) Damit wir als Gesellschaft „reicher“ werden - und damit meine ich die Erkenntnis, dass wir uns nicht an das Vorhandene anpassen müssen, sondern unsere Wirklichkeit zukunftsorientiert gestalten und erfinden können, müssen wir anerkennen, dass wir unser volles Potenzial in Interaktion mit unseren Mitmenschen und damit in unserer Alltagssprache entfalten. Ob es nun die Anziehung zum einen oder die Hinwendung zum anderen ist: „[…] das Gefühl der wechselseitigen Verbundenheit ist das Prinzip des Sozialen schlechthin.“ (Abels 2020: 24) Verbundenheit zeigt sich somit nicht unbedingt in der Übereinstimmung mit unseren Mitmenschen, sondern vor allem in der Vielfalt unserer Potenziale, die wir gemeinsam nutzen können.

 

 

 

1Siehe hierzu den Beitrag vom 25.12.2020: https://ritaklee.de/blogbeitrag/sprachgemeinschaften.html

Literatur: 

Abels, Heinz: Soziale Interaktion. Hagen 2020.

Durkheim, Emilé: (1893). Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1992.

Krebs, Marcel: Das Individuum der Sozialen Arbeit. Ein Beitrag zur Soziologie der Sozialen Arbeit. Wiesbaden 2021.


Über Lena Buß

Kulturwissenschaftlerin, aufgewachsen in Offenburg. Mit European Talk folgt sie ihrem Bedürfnis nach einer bewussten und zukunftsorientierten Sprache. Bachelorstudium in Kulturanthropologie und VWL an der Universität Freiburg, aktuell im Masterstudium.

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