von Lena Buß

Sprachgemeinschaften

"Zu dem Bett sagte er Bild.

Zu dem Tisch sagte er Teppich.

Zu dem Stuhl sagte er Wecker.

Zu der Zeitung sagte er Bett.

Zu dem Spiegel sagte er Stuhl.

Zu dem Wecker sagte er Fotoalbum.

Zu dem Schrank sagte er Zeitung.“

Wir haben im vorherigen Beitrag („Zeichen und ihre Eigenschaften“) festgestellt, dass eine Sprachgemeinschaft mehr vereint, als nur die gemeinsame Sprache. Sie besteht aus vielen Gemeinsamkeiten. Dieser Textausschnitt der Kurzgeschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“ (Peter Bichsel 1969)1, handelt von einem älteren Mann, der die Gegenstände in seinem Leben umbenennt.

Schon bald träumt er mit den neuen Bezeichnungen und hat Spaß daran, seine ‚eigene‘ Sprache zu benutzen. Die Geschichte endet tragisch, der Mann vergaß seine ursprüngliche Sprache bzw. die Bezeichnungen, er hatte in Folge dessen Angst sich zu unterhalten und er wurde nicht mehr verstanden. Am Ende sprach er gar nicht mehr.

Um in einer Sprachgemeinschaft zu interagieren, muss man folglich nicht nur die Regeln kennen (Syntax, Grammatik usw.), sondern auch den Gebrauch des Wortes in der Sprache, die Semantik2. Der Mann hatte also das Wissen über die Bezeichnungen verloren, konnte in Folge die Sprache der Sprachgemeinschaft nicht mehr sprechen und somit in keinerlei Interaktion mehr treten.

Das Wissen über den Gebrauch des Wortes, ist also unabdingbar für die Zugehörigkeit der (Sprach)gemeinschaft.

„No one has to teach us that the ordinary is ordinary, that the familiar is familiar; the very texture of common- sense life includes these typifications which indeed make further predications possible.” (Natanson 1962: XXIX)

Natanson beschreibt etwas, was offensichtlich erscheint, im Kern jedoch eine Erläuterung bedarf. Common-sense3, verstanden als ‚allgemeines Wissen‘4 innerhalb einer Gesellschaft, ermöglicht uns den Austausch mit Anderen. Dieses ‚allgemeine Wissen‘ scheint in uns zu sein und wir gebrauchen es, ohne es überhaupt zu merken.

 

Niemand muss uns darauf hinweisen,

dass ein Tisch ein Tisch ist

oder dass man morgens den

Sonnenaufgang und abends

den Sonnenuntergang sieht.

Das ‚allgemeine Wissen’ innerhalb einer Sprachgemeinschaft

„Sprache vergegenständlicht gemeinsame Erfahrung und macht sie allen zugänglich, die einer Sprachgemeinschaft angehören.“ (Berger/Luckmann 2007, 72)

Umformuliert besteht eine Sprachgemeinschaft also aus gemeinsamen Erfahrungen, die durch Sprache sichtbar gemacht werden. ‚Erfahrung‘ bezieht sich dabei allgemein ausgedrückt, auf das Verständnis des Gesagten, also den Sinn dahinter.

Gleichzeitig zeigt dieser ‚Sinn‘ auch, was in unserer Sprachgemeinschaft relevant ist: Z.B. ist es im Deutschen irrelevant, ob meine Tante die Schwester meiner Mutter oder meines Vaters ist. Wohingegen im Türkischen dies eine sprachliche Unterscheidung findet: ‚hala‘ bedeutet die Schwester meines Vaters und ‚teyze‘ die Schwester meiner Mutter. Das „allgemeine Wissen“ innerhalb dieser Sprachgemeinschaft lässt also in der türkischen Sprache darauf schließen, dass die verwandtschaftlichen Beziehungen von anderer Relevanz sind, als im Deutschen.

In jeder Sprache gibt es Sprachregeln, die mit dem ‚allgemeinen Wissen‘ einhergehen. Ich weiß, dass im Deutschen gesellschaftliche Nähe durch Pronomen wie ‚du‘ und ‚Sie‘ (im Französischen ‚tu‘ und ‚vous‘, im Türkischen ‚sen‘ und ‚siz‘ usw.) sprachlich differenziert wird. Aus diesem Grund würde ich meine Vorgesetzte niemals duzen, gleichwohl würde ich meine Mutter nicht siezen. Halte ich diese Regel nicht ein, werde ich womöglich als „unfreundlich“ oder „komisch“ bezeichnet.

 

Der Mann aus Peter Bichsels Geschichte war nicht mehr Teil der Sprachgemeinschaft.

Nicht auf Grund der Tatsache, dass er bestimmte Wörter nicht mehr kannte, sondern weil er sie nicht mehr benutzen konnte.

Eine Sprachgemeinschaft wird erst durch den Austausch mit anderen wirklich.

Dieser Austausch erfordert Wissen, das aus Regeln und Relevanzen besteht und einer gemeinsamen Übereinkunft, dass der Himmel eben blau und das Gras grün ist.

 

 

 

 

 

Bild 1 von Pexels auf Pixabay, Bild 2 L. Buß, Bild 3 MabelAmber auf Pixabay  Literatur: Berger, Peter L; Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M. 2007 (Original 1966). Natanson, Maurice: Introduction. In: Schütz, Alfred: Collected Papers I. The Problem of Social Reality. Den Haag 1962: XXV- XLVII.

1Peter Bichsel „Ein Tisch ist ein Tisch“: https://www.deutschunddeutlich.de/contentLD/GD/GT67cTischistTisch.pdf  2Die Semantik (altgriechisch „bezeichnen, ein Zeichen geben“) ist ein Teilgebiet der Linguistik bzw. der Semiotik.  3Die Übersetzung ‚gesunder Menschenverstand‘ wird bewusst nicht gewählt, da sie oft mit ‚allgemeinem Konsens‘ gleichgesetzt wird. Siehe: https://www.welt.de/kultur/article13430725/Common-sense-ist-alles-andere-als-Konsens.html  4In Anlehnung an den soziologischen Begriff des „gesellschaftlichen Wissensvorrats“ Berger/Luckmann

 


Über Lena Buß

Kulturwissenschaftlerin, aufgewachsen in Offenburg. Mit European Talk folgt sie ihrem Bedürfnis nach einer bewussten und zukunftsorientierten Sprache. Bachelorstudium in Kulturanthropologie und VWL an der Universität Freiburg, aktuell im Masterstudium.

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Kommentar von Elsa |

Sehr geehrte Frau Buß,

das ist ein toller Beitrag und schafft interessante Erkenntnisse. Es ermutigt die Sprache neu zu denken und diese als Werkzeug, als Gabe und als Privileg wahrzunehmen.

Einfach toll, vielen Dank!