von Lena Buß

Relevāre: "In die Höhe heben"

Geisteswissenschaften untersuchen Wirklichkeiten und gesellschaftliche Zusammenhänge, sie zeigen dadurch auf, nach welchen Orientierungen, Werten und Normen „Gesellschaft“ entsteht. Gleichzeitig haben sie dadurch ein Forschungsfeld, welches grundsätzlich für jede Person sichtbar und erfahrbar ist. Diese Erfahrbarkeit und Sichtbarkeit unterscheiden sich nichtsdestoweniger von einem wissenschaftlichen Zugang zum Menschen als denkendes und fühlendes Wesen. Denn das Erforschen von bestehenden lebensweltlichen Bezügen und Wirklichkeiten bedarf der Abstraktion und der Reflexion der forschenden Personen, denn die Wissenschaftler*innen sind ja selbst Teil der Gesellschaft die sie erforschen.

Wir haben in den vorherigen Beiträgen die Problematik von Relevanz, Verständnis und Wissen diskutiert, die auftritt, wenn von der wissenschaftlichen Sprachgemeinschaft Inhalte in die Allgemeine getragen werden sollten. Allerdings gibt es diese 'Problematik' auch innerhalb der Geisteswissenschaften genauer gesagt zwischen den verschiedenen Disziplinen. Das Interessante dabei ist, dass die Wissenschaftler*innen sich nicht davon abhalten lassen, Arbeiten bzw. Literatur aus anderen Disziplinen für ihr Forschungsfeld heranziehen.

„Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“, ein Buch über die Wissenssoziologie, das sich in seiner Analyse mit der Alltagswelt und den Wahrnehmungsweisen von Individuen beschäftigt ist ein Werk von den Soziologen Berger/Luckmann, welches als Klassiker gilt - und das nicht nur in der Soziologie. Als Kulturanthropologin verstehe ich zwar das Werk, weil man als Leserin nah am Text und in die Beispiele mit einbezogen wird, aber das macht es kompliziert zu rezipieren und auf andere (Wissenschafts)bereiche zu übertragen. 

It’s contents, however, while brilliantly written, have never been really understood (…) only a few have studied it.“ (Eberle 1992).

Um es tatsächlich zu ‚studieren‘ bzw. zu verstehen habe ich jemanden aus ‚meinem Fach‘ hinzugezogen. Kulturwissenschaftler Michael W. Schramm fächert in „Symbolische Formung und die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit“ die Wissenssoziologie Berger/Luckmanns in ihren Grundthesen und Bezüge auf und bezieht sie dabei auf die Kulturphilosophie Cassirers.

Ich habe mir quasi einen Übersetzer geholt, der das Wissen von Berger/Luckmann in meinen Wissensbereich überträgt. Das muss natürlich nicht immer Voraussetzung sein, um große und kleine Werke aus einer anderen Disziplin zu lesen und zu verstehen, aber gerade bei ‚Klassikern‘ wie bspw. von Pierre Bourdieu, Judith Butler oder Michel Focault gibt es genügend weiterführende Literatur, die das Wissen sozusagen aufdröseln.

Mit diesem Beispiel aus meiner eigenen Arbeitsweise möchte ich zeigen, dass eine Art Übersetzung bzw. Übertragung von Wissen aus einer Sprachgemeinschaft in eine andere grundsätzlich möglich ist, sofern irgendeine Form von Übertragung bereits vorhanden ist. Genau da sehe ich die Wissenschaften in ihrer Pflicht ihr Wissen von der spezifischen Sprachgemeinschaft in irgendeiner Form in die Allgemeine zu übertragen. Voraussetzung für die ‚Annahme ‘ des übertragenen Wissens  ist nichtsdestotrotz die Relevanz, welche gleichzeitig der stärkste Antrieb sein kann. Wenn wir etwas für relevant, also für wichtig empfinden, dann heben wir es wortwörtlich in die Höhe (lat. Relevāre). Egal ob es ein Vorhaben, ein Wunsch, eine Vision oder irgendetwas anderes ist, sobald wir Relevanz, in dem was wir tun sehen, passiert etwas Magisches: Es gibt kein zu schwer, kein zu weit, kein „das geht nicht“, denn wir legen uns fest, übernehmen Verantwortung und kommen ins Erschaffen.

 

 

Berger, Peter L; Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M. 2007 (Original 1966).

Eberle, Thomas Samuel: Social Construction in Context. In: Perspectives. The Theory Selection Newsletter. The American Sociologial Association 15, 1992: 7-8.

Schramm, Michael W; Symbolische Formung und die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Konstanz/ München 2014.


Über Lena Buß

Kulturwissenschaftlerin, aufgewachsen in Offenburg. Mit European Talk folgt sie ihrem Bedürfnis nach einer bewussten und zukunftsorientierten Sprache. Bachelorstudium in Kulturanthropologie und VWL an der Universität Freiburg, aktuell im Masterstudium.

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