von Lena Buß

Mehr als Worte

„Ukrainian forces have put civilians in harm’s way by establishing bases and operating weapons systems in populated residential areas, including in schools and hospitals […].“ (Amnesty International)

Mit diesem Satz beginnt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) ihren Bericht vom 04.08.2022. Auf ihn folgen zahlreiche Kommentare, Meinungsäußerungen, Kritik und Befürwortung sowie ein Rücktritt von Oxana Pokaltschuk der Leiterin von Amnesty International Ukraine.

Die europäischen Reaktionen sind ziemlich verschieden, so schreibt die rumänische Tageszeitung Libertatea: „Für den ukrainischen Staat bedeutet Kritik oft nicht, dass man anderer Meinung ist, sondern dass man Feind ist.“ Auch die tschechische Zeitung Deník verteidigt den Bericht:

„Sollte der Bericht in der Schublade verschwinden? Keinesfalls. Die russische Führung ist der Aggressor, die Ukraine das überfallene Land, das sich gegen stärkere Eindringlinge wehrt. Wenn sie dabei aber Recht verletzt und Menschen einer überflüssigen Gefahr aussetzt, ist das taktisch vielleicht verständlich, aber nicht zu entschuldigen."

Oxana Pokaltschuk beschreibt den Bericht als einseitig und kritisiert, dass die Seite der ukrainischen Streitkräfte nicht ausreichend beleuchtet wurde: "Wenn Sie nicht in einem Land leben, in das Besatzer einfallen, die es in Stücke reißen, verstehen Sie wahrscheinlich nicht, wie es ist, eine Armee von Verteidigern zu verurteilen"

Bei all den medialen Stimmen geht es aber nicht nur um Befürwortung oder Verurteilung. Der Bericht ist mehr als nur eine Zusammenstellung von Informationen, die zur Sprache gebracht werden. So schreibt die TAZ:

„Sie [AI] müsste antizipieren können, wie die öffentliche Rezeption ihrer Berichte ausfällt. Und sie müsste in der Lage sein, ihre Erkenntnisse so zu publizieren, dass sie nicht in Moskau eine Täter-Opfer-Umkehr ermöglichen und damit in Kiew Empörung provozieren.“

Der Bericht enthält nämlich Narrative, die je nach Perspektive unterschiedlich eingesetzt werden können. Wie die Vorwürfe von AI einzuordnen sind, ist laut Experten gar nicht so einfach:

„Tinazzis Beispiel offenbart eine weitere große Schwäche der Amnesty-Analyse: Vier Einzelfälle werden dazu verwendet, um der ukrainischen Kriegsführung pauschal die Gefährdung von Zivilisten zu unterstellen. In einer Zeit, in der die russischen Truppen ukrainische Städte in Kriegszonen verwandeln.“ (Kriegsreporter Christiano Tinazzi ggü. dem Tagesspiegel)

Die Stimmen der europäischen Zeitungen zeigen die unterschiedlichen Sichtweisen und das Verständnis darüber, wie sie die Welt sehen. Und genau nach diesem Verständnis wird der Bericht eingeordnet. Darüber, dass die Zivilbevölkerung geschützt werden muss sind sich die Medien einig, doch die Bewertungsgrundlage ist mehr als nur das nationale Verständnis:

Es ist die Frage nach der Wahrheit. Es ist demnach "egal", ob Amnesty richtig recherchiert hat, den Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens gefolgt ist oder die Faktenlage berücksichtigt hat. Die Lesenden des Berichts resonieren entweder zustimmend oder ablehnend und empfinden den Bericht somit als wahr oder unwahr. So können aus einer Aneinanderreihung von Worten Narrative gebildet werden.

Wenn wir über „wahre Worte“ oder „falsche Versprechen“ reden, so müssen wir uns immer fragen welche Lesart gegeben wurde und welchen Einfluss diese auf uns hat.  Worte sind damit nie allein: Sie sind Träger von Überzeugungen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Bericht: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2022/08/ukraine-ukrainian-fighting-tactics-endanger-civilians/

Quellen: https://www.eurotopics.net/de/286196/was-ist-dran-am-ukraine-bericht-von-amnesty

https://m.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/nach-ruecktritt-der-ukraine-chefin-amnesty-bedauert-durch-bericht-verursachten-schmerz-und-aerger/28581482.html

https://www.tagesspiegel.de/politik/kritik-an-amnesty-bericht-reisst-nicht-ab-die-seltsame-rolle-der-chef-krisenberaterin-donatella-rovera/28586830.html

https://www.tagesschau.de/ausland/europa/amnesty-ukraine-zivilisten-101.html

Bewertung Bericht: https://ukraineverstehen.de/amnesty-international-liegt-daneben/


Über Lena Buß

Kulturwissenschaftlerin, aufgewachsen in Offenburg. Mit European Talk folgt sie ihrem Bedürfnis nach einer bewussten und zukunftsorientierten Sprache. Bachelorstudium in Kulturanthropologie und VWL an der Universität Freiburg, aktuell im Masterstudium.

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