von Lena Buß

Infragestellen

„Marin ist eine bildschöne, schlanke 36-Jährige mit einem Ehemann, einer kleinen Tochter und einem Land, das es zu regieren gilt. […] ein Hoch auf das Partygirl Sanna, das zeigt, dass man gleichzeitig Politikerin und normaler Mensch sein kann.“ (The Daily Telegraph)

Die finnische Premierministerin Sanna Marin wurde vor ein paar Monaten für ihre Darstellung in der Öffentlichkeit medial gefeiert. Ein Foto zeigt sie in Jeans, Shirt und einer Lederjacke auf einem Rockfestival. Sie wird als „coolste Premierministerin“ beschrieben.  Nun sind zwei Videos aufgetaucht, die die Medien als „Skandal“ bezeichnen. Im ersten Video ist Marin mit anderen Menschen in einem Raum, der aussieht wie ein Wohnzimmer zu sehen. Sie singt, tanzt und lacht in die Kamera. Das zweite Video zeigt sie tanzend mit einem Mann auf einer Party. Es scheint als wurde sie heimlich gefilmt.

In der Öffentlichkeit und den sozialen Medien findet sich breite Solidarität. aber auch Kritik, Empörung und Verurteilung. Im Unterschied zu den öffentlichen Medien, die Marins (politische) Kompetenz in Frage stellen, prangern die sozialen Medien vor allem ihr Verhalten als (Ehe)frau an.

Die Frage wer an dem veröffentlichten Video Interesse haben könnte bleibt offen und wird nicht weiter thematisiert. Dröselt man die Begebenheiten auf, lassen sich in den öffentlichen Medien drei Diskurse feststellen:

Erstens die Rolle von Frauen in politischen Ämtern und ihre Verbindung zu gesellschaftlichen Normen:

„Viele dieser eher absurden innenpolitischen Kontroversen haben einen Beigeschmack von Frauenfeindlichkeit. Denn Marin hat Finnland unbeirrt durch mehrere außerordentlich schwierige Situationen geführt: angefangen bei der Corona-Pandemie und bis hin zum aktuellen NATO-Beitrittsprozess. Es ist für einige - vor allem wohl Männer - ganz offensichtlich nur schwer zu glauben, dass eine 36-jährige Frau eine kompetente Ministerpräsidentin und Mutter eines kleinen Kindes sein kann. Und die trotz eines der härtesten Jobs im Lande auch noch ein ganz normales Privatleben führt, auf Festivals geht und sogar gelegentlich feiert!“ (DW)

Zweitens die Rolle von (politischen) Führungskräften:

"Es zeigt sich, dass wir alle viel konservativer sind, als wir uns selbst eingestehen. Die Vorstellung, dass sich für Spitzenpolitiker bestimmte Verhaltensweisen nicht ziemen, ist tief verwurzelt." Doch erst, wenn die Gesellschaft aufhöre, unmenschliche Anforderungen an ihr Führungspersonal zu stellen, wird sie wirklich demokratisch sein.“ (Hospodarske noviny Tschechien)

Und drittens die allgemeine Frage: Wer hat Interesse an der Veröffentlichung und was hat das mit Politik zu tun?

„Offensichtlich, weil jemand damit rechnet, dass das der Betroffenen schaden könnte. Dass so etwas verfangen könnte, sagt freilich einiges darüber aus, was wir an Überzogenem und Widersprüchlichem auf Politiker projizieren. [..] Das alles wird tendenziell dazu führen, dass immer weniger hoch qualifizierte Menschen bereit sein werden, in die Politik zu gehen - weil sie wenig Lust verspüren, für ein vergleichsweise bescheidenes Gehalt ständig im grellen Licht der Öffentlichkeit zu stehen und sich permanent vermeintliche wie tatsächliche Verfehlungen um die Ohren hauen zu lassen.“ (Kurier AT)

Die unterschiedlichen Reaktionen zeigen verschiedene Sichtweisen, Perspektiven und gesellschaftliche Werte/Normen, die hier entweder als verletzt/bestätigt kommentiert oder in Frage gestellt werden. Genau dieses Infragestellen ist das kraftvolle, was öffentliche Medien tun können und tun sollten.

Mit den ausgelösten Diskursen zeigt sich, dass Sprache nicht nur Träger von Überzeugungen ist, sondern auch immer gesellschaftliche Werte und Normen innehält. Nicht die Frage wie diese verletzt oder erfüllt wurden sollte gestellt werden. Dann befinden wir uns auf der Verurteilung-/Beurteilungsebene, die die Vergangenheit betrifft. Sondern die Frage warum wir sie als verletzt/ erfüllt wahrnehmen und ob das eine zukunftsorientierte Perspektive ist, sollte gestellt und bearbeitet werden.

 

 

 

 

 

Quellen:

https://www.dw.com/de/gastkommentar-viel-l%C3%A4rm-um-nichts-sanna-marin-und-ein-sehr-finnischer-skandal/a-62873301

https://kurier.at/meinung/marin-versus-nehammer/402116706

https://www.telegraph.co.uk/columnists/2022/08/18/three-cheers-finlands-pm-politician-normal-human/

Hospodarske noviny- Zitat auf https://www.n-tv.de/politik/Sanna-Marin-bekommt-Unterstuetzung-nach-Party-Kritik-article23539546.html

 


Über Lena Buß

Kulturwissenschaftlerin, aufgewachsen in Offenburg. Mit European Talk folgt sie ihrem Bedürfnis nach einer bewussten und zukunftsorientierten Sprache. Bachelorstudium in Kulturanthropologie und VWL an der Universität Freiburg, aktuell im Masterstudium.

Zurück

Einen Kommentar schreiben