von Lena Buß

Das 'Mensch-Sein' als Forschungsgegenstand

Unter dem Sammelbegriff „Geisteswissenschaften“ werden im deutschsprachigen Raum verschiedene Einzelwissenschaften (z.B. Sozial- und Gesellschaftswissenschaften) bzw. Disziplinen gefasst (z.B. Kulturanthropologie oder Soziologie), die mit unterschiedlichen Methoden Gegenstandsbereiche untersuchen und damit gesellschaftliche und soziale Phänomene verstehen wollen.

Gerade Disziplinen, die einen Ansatz des Verstehen-Wollens in ihrer Forschung pflegen, tun dies teilweise mit empirischen Methoden. Empirie, also ;Erfahrung‘ oder ‚Erfahrungswissen‘ kann im naturwissenschaftlichen Kontext durchaus im Labor stattfinden, im Kontext von Disziplinen der Kultur- und Sozialwissenschaften meine ich damit jedoch den Ansatz, lebensweltliche Dinge zu beobachten oder sich wissenschaftlich an (gesellschaftliche) Phänomene anzunähern. Die Methoden reichen von qualitativ1 geführten Interviews bis hin zur teilnehmenden Beobachtung z.B. in einem Fußballstadion (vgl. Schmidt-Lauber 2009).

Mit der Darstellung des Forschungsansatzes solcher Disziplinen möchte ich hervorheben, was der Forschungsgegenstand ist, nämlich der Mensch und seine Lebenswelt mit all den Bezügen zu Gesellschaft, Kultur, Religion und dem, was das Mensch-Sein sozusagen ausmacht. Eine Wissenschaft, die Wirklichkeiten und gesellschaftliche Zusammenhänge untersucht hat ein Forschungsfeld, welches grundsätzlich für jede Person sichtbar und erfahrbar ist.

Darin liegt vielleicht auch die Problematik, was die Vermittlung solcher Forschungserkenntnisse angeht. Im Grunde genommen erforschen diese Disziplinen nichts ‚Neues‘, sondern etwas Bestehendes. Wieso sollten diese Erkenntnisse denn für die breite Gesellschaft relevant sein? Wir erinnern uns, Kategorien einer allgemeinen Sprachgemeinschaft sind Wissen, Sinnordnung/Verständnis und Relevanz. Wenn die allgemeine Sprachgemeinschaft die Relevanz im Gesagten nicht sieht, dann ist ein Austausch darüber schwierig.

Die Relevanz von Geisteswissenschaften zeigt sich in ihrem Forschungsgegenstand: „Wir müssen nicht nur über uns selbst nachdenken. Wir sollen auch darüber nachdenken, wie wir über uns nachdenken. Das ist Aufgabe der Geisteswissenschaften. Wer sie schwächt, zerstört die Grundlagen des Projekts Aufklärung.“ (NZZ vom 18.11.2019)

Die Welt verändert sich tagtäglich. Digitalisierung, KI, Fake-News oder Klimawandel, alles ist vom Menschen erschaffen. Um die Herausforderungen und Probleme unserer Zeit zu meistern brauchen wir Geisteswissenschaften, denn sie beinhalten ein hohes Maß an Reflexionskompetenz und machen sichtbar, was für die Meisten unsichtbar ist. So plädiert auch der führende KI-Forscher Stuart Russell aus Berkeley in seinem Buch „Human Compatible“ Geisteswissenschaften (humanities) zu konsultieren, um die Reflexionskompetenz nicht an die falsche Adresse zu delegieren.

Die Geisteswissenschaften finden also einen wissenschaftlichen Zugang zum Menschen als denkendes und fühlendes Wesen und machen damit sichtbar, nach welchen Orientierungen, Werten und Normen „Gesellschaft“ entsteht. Mensch-Sein bedeutet allen voran, dass der Mensch ein geistiges Lebewesen ist. Wir müssen uns aber zwangsläufig mit der Frage beschäftigen „wie der Geist in die Natur passt“ (NZZ vom 18.11.2019). Diese Frage kann nur in interdisziplinären Austausch von geistes-, natur- und technowissenschaftlicher Expertise beantworten werden.

1 Mit qualitativ meine ich Interviews, die die Perspektive der Interviewten wiedergeben. Es kommt dabei nicht auf die Anzahl der geführten Interviews an und es werden keine geschlossenen (Ja/Nein) Fragen gestellt. Das qualitative Interview unterscheidet sich dabei auch ganz klar von Fragebögen, da diese quantitativ, also auf ihre Anzahl hin untersucht werden.

 

 

 

Schmidt-Lauber, Brigitta: "Der zwölfte Mann". Die Europäische Ethnologie im Feld der Fußballfans. In: Österreichische Zeitung für Volksunde 112/4 (2209).

Russell, Stuart: Human Compatible: Artificial Intellegence and the problem of control. New York 2019.

https://www.nzz.ch/feuilleton/kritisches-denken-wieso-wir-die-geisteswissenschaften-brauchen-ld.1521256

Bild: L. Buß


Über Lena Buß

Kulturwissenschaftlerin, aufgewachsen in Offenburg. Mit European Talk folgt sie ihrem Bedürfnis nach einer bewussten und zukunftsorientierten Sprache. Bachelorstudium in Kulturanthropologie und VWL an der Universität Freiburg, aktuell im Masterstudium.

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