von Lena Buß

Das kommunikative Gedächtnis

„Die Sprache ist nicht nur der wichtigste Träger subjektiver Erinnerungen, sie ist auch ein kollektives Gedächtnis, ein historisches Archiv menschlicher Erfahrungen und Weltaneignung.“ (Assmann 2007, 61)

Das Zitat greift nochmals Teile des letzten Beitrages auf: Sprache ist sozusagen ein Spiegel mit dem man in die Vergangenheit, in die Gegenwart und vielleicht sogar auf die Zukunft blicken kann.

Das kommunikative Gedächtnis

Der Soziologe Harald Welzer hat aufbauend auf den Begriff des kulturellen Gedächtnisses ( Jan und Aleida Assmann) das kommunikative Gedächtnis untersucht. Während des Alltags machen Menschen unendlich viele Erfahrungen in der sozialen Praxis, z.B. auf der Arbeit oder in der Uni-Bibliothek. Im Zusammensein mit anderen Menschen lernt das Individuum praktisch, wie es sich erfolgreich in eine Gemeinschaft einfügen und zu einem akzeptierten Mitglied einer Gruppe wird.

Diese individuellen Erfahrungen werden im Gehirn neurologisch gesprochen, als dispositionelle Repräsentationen bzw. Engramme im Gehirn abgebildet. Die Summe der Repräsentationen bildet das Wissen eines Individuums, auf das es in der Interaktion und Kommunikation mit anderen zurückgreifen kann, deshalb auch der Begriff kommunikatives Gedächtnis. (vgl. Welzer 2002, 77-110)

Das autobiographische Gedächtnis

Welzer stellt weiterführend fest, dass Erinnerungen mit Raum, Zeit und Emotionen verbunden sind und somit ein Ich-Bezug zu den Erinnerungen besteht. Dies scheint nachvollziehbar. Wenn ich an mein letztes Festival denke, erinnere ich mich nicht nur an das Ereignis selbst, sondern auch an alles drumherum: Der Ort Kastellaun, die Zelte, die Menschen um mich herum, die Jahreszeit, was ich getragen habe und wie selig ich über diese drei Tage mit mir und der Welt war.

Das autobiografische Gedächtnis kann somit gefasst werden als ein Gedächtnis, in dem das individuelle Wissen des Menschen abgelegt ist. Im autobiografischen Gedächtnis sind die Erinnerungen einer Person über die eigenen Lebenserfahrungen als Ereignisse eingeschrieben, die ohne bewusste Gedächtnisanstrengung gespeichert wurden, sozusagen als mentale Repräsentation der eigenen Lebensgeschichte:

„Das autobiografische Gedächtnis erlaubt nicht nur, Erinnerungen als unsere Erinnerungen zu markieren, es bildet auch die temporale Feedbackmatrix unseres Selbst […].“ (Welzer 2017,160)

Mit unserem autobiographischen Gedächtnis gelangen wir somit in Interaktion mit uns selbst. Wir bewerten z.B. unser Verhalten gegenüber eines unfreundlichen Mannes in der Straßenbahn und denken uns vielleicht „Hätte ich doch bloß anders reagiert“ oder wir bestätigen uns „Das war richtig“. Diese Auseinandersetzung erfolgt vor allem über Sprache und Emotionen. Dabei ist es irrelevant, ob unsere Einschätzungen tatsächlich wahr sind.

Wir haben gesehen, dass sich unser Gedächtnis, welches wir als Kern von uns Selbst betrachten könnten, vor allem in Verbindung mit anderen nicht nur sichtbar, sondern auch erlebt wird.

 

Das kommunikative Unbewusste

Und dann ist da noch das Unbewusste, dass uns befähigt den Sinn des Gesagten zu verstehen, dem Gespräch einen Rahmen setzen, sodass wir bei Bank an eine Bank zum Sitzen denken und nicht an ein Kreditinstitut, uns Vorstellungen des Gesagten machen, Lücken von Nichtgesagtem ausfüllen können, Antworten und Fragen vorzubereiten. Ohne das Unbewusste mit all seinem Wissensbestand, wäre eine Kommunikation gar nicht möglich.

Das kommunikative Unbewusste, wie Welzer es nennt (Welzer 2002, 208) wird aber auch in unseren Erinnerungen deutlich bspw., wenn die Personen, die im o. g. Beispiel der Festivalerinnerung zusammensitzen und über die Vergangenheit sprechen. Wir sprechen in der Gegenwart über ein Ereignis in der Vergangenheit. „Hey weißt du noch am zweiten Tag…“ und ich erinnere mich an etwas, was ich schon längst vergessen hatte. Mit Kommunikation wird ein vergangenes Ereignis nicht nur lebendig, sondern auch zusätzlich mit neuer Erinnerung versehen, oder wie Martin Walser sagt: „So lange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen ist.“

Unser Gedächtnis ist somit ein wirklich bemerkenswerter Speicher von sozialer Praxis, Erfahrungen und Erinnerungen, der immer wieder durch Interaktion und Kommunikation erweitert wird. Somit ist unser Gedächtnis tatsächlich kommunikativ, und zwar nicht nur in Interaktion, sondern auch mit sich selbst im Unbewussten. Wenn wir das bedenken, dann sollte klar sein, dass wenn wir uns im Dialog mit uns selbst eingrenzen, z.B. wegen etwas Vergangenem „das war ja klar, dass du das nicht schaffst“ oder wegen etwas Zukünftigem „das wirst du nie schaffen“ es weitreichende zukünftige Auswirkungen auf unser Selbst, unsere Mitmenschen und die Welt hat.

Wie wollen wir also mit unserem Selbst und unseren Mitmenschen sprechen?

 

 

 

Literatur: Assmann, Aleida: Die Geisteswissenschaftler als Schutzengel des kulturellen Gedächtnisses. In: Geisteswissenschaften - im Gegenwind des Zeitgeistes? : Zum Abschluß des Historischen Wörterbuchs der Philosophie / Kodalle, Klaus-Michael (Hrsg.) Mainz 2007: 61-75. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2017 und 2002.

Bild: L. Buß


Über Lena Buß

Kulturwissenschaftlerin, aufgewachsen in Offenburg. Mit European Talk folgt sie ihrem Bedürfnis nach einer bewussten und zukunftsorientierten Sprache. Bachelorstudium in Kulturanthropologie und VWL an der Universität Freiburg, aktuell im Masterstudium.

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