von Lena Buß

Alltagssprachlicher Wandel

Der semantische Wandel innerhalb der allgemeinen Sprachgemeinschaft (siehe Blogbeitrag vom 25.12.20) lässt sich am besten mit der Formulierung „alltagssprachlicher Wandel“ beschreiben.

Im letzten Beitrag wurde deutlich, dass semantischer Wandel mit einer Veränderung des Gebrauchswertes und der eigentlichen Benutzung des Begriffs stattfindet. Es geht also nicht allein um die Häufigkeit, also wie oft man das Wort „Rauchwaren“ hört oder spricht, sondern auch um den Gebrauchsort.

Die Semantik eines Begriffs wird also erst in ihrem Gebrauch offensichtlich. Bisher haben wir lediglich den semantischen Wandel betrachtet, ohne den Bezug zur Sprachgemeinschaft. Die allgemeine Sprachgemeinschaft stellt mit der allgemeinen Sinnordnung (Wissensvorrat, Relevanzen und Regeln) und der Verbindung zur Alltagssprache und Alltagswelt erst den Rahmen für einen semantischen Wandel.

Wie wir bei den Beispielen vom letzten Beitrag gesehen haben, führte eine Veränderung der Alltagswelt zur Veränderung des Gebrauchs, zum Beispiel beim „Bandsalat“, den es logischerweise nur geben kann, wenn man noch Kassetten benutzt. Alltagssprachlicher Wandel kann jedoch nicht allein durch die (äußerliche) Veränderung der Alltagswelt begriffen werden.

Das folgende Beispiel soll dies verdeutlichen: Die Badischen Zeitung veröffentlichte am 07.08.2020 einen Artikel mit folgendem Titel: „Transfrau sieht sich durch Formulierung der Polizei Freiburg diskriminiert – die will dazulernen“. Es handelte sich um eine öffentliche Fahndung, die wie die BZ schreibt „inhaltlich und sprachlich“ für Aufregung sorgte. Gesucht wurde nach "einem Mann in Frauenkleidern, der spielende Kinder fotografiert". Ich will an dieser Stelle nicht über die Formulierung urteilen, aber selbstverständlich muss diese Fahndung bei Eltern eine große Aufmerksamkeit, Angst und weitere teils vorhersehbare Reaktionen ausgelöst haben.

Der Fall wurde schnell aufgeklärt, es handelte sich um eine Transfrau, die Aufnahmen für ein Filmprojekt machte. Doch die Formulierung "Mann in Frauenkleidern" hat bei der betroffenen Transfrau Michaela Klähn und Freiburger Organisationen wie den Vereinen "Fluss" und "TransAll", die sich für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt engagieren, für Verletzung und Aufregung gesorgt, so die Badische Zeitung.

Klähn wünscht sich eine sensiblere Sprache und die Polizei sei bereit, mehr über das Thema zu lernen. Um Fragen und Irritationen zu klären, schlugen sie einen runden Tisch mit allen Beteiligten vor.1

Der Polizei in Freiburg war offensichtlich nicht bewusst, dass sie mit dieser Formulierung solche Reaktionen auslöst. Abgesehen davon, dass es aus Sicht der Polizei um einen schnellen Fahndungserfolg ging, hat ihr Wissen über transfreundliche Sprache nicht ausgereicht. Im Blogbeitrag zu „Alltag und Sprache“ (vom 01.01.21) wurde folgendes festgestellt: „allein durch Beruf, Alter, Gender oder persönliche Interessen bilden sich unterschiedliche Perspektiven und spezifisches Wissen unter dem die Gesamtgesellschaft existiert und ihre volle Vielfalt entfaltet.“

Diese individuellen und spezifischen Perspektiven bezeichnet die Soziologen Berger und Luckmann als „symbolische Subsinnwelten“ bezeichnen (Berger/Luckmann 2007, 90).

Wir finden sie auch im o. g. Beispiel, denn die verschiedenen Subsinnwelten lassen sich deshalb so gut erkennen, weil sie sich sprachlich unterscheiden, vor allem aber unterscheiden sie sich in ihrem Wissensvorrat:

„Es geschieht etwas Unvorhersehbares; man stellt fest, dass bisherige Redeweisen weder den neuen Sachverhalt erfassen noch erfolgreiches Handeln in der neu entstandenen Situation erlauben; und man verändert daraufhin seine Redeweise (Steinmetz 2008,188. ).“

Wenn also zum „allgemeinen Wissen“ (siehe Blogbeitrag vom 25.12.20) neue Wissensbestände aus den Subsinnwelten hinzukommen wie z.B. transfreundliche Sprache oder das Binnen-I, muss dies von der symbolischen Subsinnwelt erst einmal in die allgemeine Sinnordnung (Wissen, Regeln und Relevanzen) und somit in die allgemeine Sprachgemeinschaft getragen werden.

Sprachentwicklung, bzw. alltagssprachlicher Wandel entsteht also aus einer Gebrauchsveränderung und der Veränderung des allgemeinen Wissensbestandes.

Fassen wir also nochmal zusammen: Egal ob Bezeichnungs-, Bedeutungsinnovation oder bei der Defunktionalisierung von Begriffen, der semantische Wandel zeigt sich im Gebrauch des Wortes und somit in seiner aktiven Verwendung. Je nach Zustand der Alltagswelt, Ort des Gebrauchs und Sachverhalt variiert bzw. entwickelt sich die Sprache.

Damit diese Entwicklung zustande kommt, muss sie in das allgemeine Wissen der Gesellschaft getragen werden. Eine Veränderung kann somit nur entstehen, wenn alle mitmachen…

 

 

 

 

 

1https://www.badische-zeitung.de/transfrau-sieht-sich-durch-formulierung-der-polizei-freiburg-diskriminiert-die-will-dazulernen?cx_testId=43&cx_testVariant=cx_4&cx_artPos=3#cxrecs_s

Bilder auf Pixabay: B1 von Free-Photos, B2 von cocoparisienne. Literatur: Berger, Peter L; Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M. 2007 (Original 1966). Steinmetz, Willibald: Vierzig Jahre Begriffsgeschichte – The State of the Art, in: Heidrun Kämper/ Ludwig M. Eichinger (Hg.), Sprache – Kognition – Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung, Berlin 2008, S. 174–197.


Über Lena Buß

Kulturwissenschaftlerin, aufgewachsen in Offenburg. Mit European Talk folgt sie ihrem Bedürfnis nach einer bewussten und zukunftsorientierten Sprache. Bachelorstudium in Kulturanthropologie und VWL an der Universität Freiburg, aktuell im Masterstudium.

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